Rita Luppi
Erzählen und Wiedererzählen
Analyse narrativer Rekonstruktion in mehrfachen Interviews
mit deutschsprachigen Migrant:innen in Israel
Vergangene Ereignisse und Erfahrungen werden im Erzählprozess rekonstruiert (vgl. Gülich 2007a) und an den neuen Gesprächskontext angepasst (vgl. z. B. Norrick 2005). Allerdings werden sie nicht in ihrer ursprünglichen, sondern in ihrer erinnerten Form rekonstruiert (vgl. Gülich 2012). Dass die narrative Rekonstruktion von Vergangenem sich durch die Triangulation Erleben – Erinnern – Erzählen (vgl. Rosenthal 2010) auszeichnet, wird auch bei narrativ-autobiographischen Interviews deutlich (vgl. Leonardi 2016), da die Sprecher:innen zwischen der aktuellen Dimension der Interviewsituation und der vergangenen Dimension der rekonstruierten Vergangenheit wechseln (vgl. Chafe 1994).
Die Analyse von Wiedererzählungen (retellings; vgl. Schumann et al. 2015a) kann auf die Untersuchung der erzählerischen Rekonstruktions- und Reinterpretationsprozesse ertragreich angewendet werden. Trotz des wachsenden Interesses an diesem Phänomen wurden bisher keine umfangreichen Untersuchungen zu spontanen, konversationellen Wiedererzählungen durchgeführt. Darüber hinaus wurde der Fokus beim Vergleich von mehrfachen Versionen derselben Geschichte vorwiegend auf die lexiko-syntaktischen Charakteristika des Gesagten gelegt; die Betrachtung der prosodischen Ebene stellt hingegen ein weitgehendes Forschungsnovum dar (vgl. aber Barth-Weingarten/Schumann/Wohlfarth 2012).
Die vorliegende Arbeit schließt diese Forschungslücke, indem sie den aktuellen Diskurs zum Wiedererzählen erweitert und ergänzt. Die Datengrundlage bilden zwei Teilkorpora, nämlich Erst- und Wiederholungsinterviews mit der zweiten Generation deutschsprachiger Migrant:innen in Israel (vgl. z. B. Betten 2010), die im Rahmen des Projektes zum Israelkorpus (für einen Überblick vgl. Leonardi et al. 2023) erhoben wurden (vgl. DGD des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache Mannheim). In Anbetracht der Zeitspanne von 13 bis zu 20 Jahren, die zwischen den Erstgesprächen und den Wiederholungsinterviews liegt, stellen diese Gespräche einen lohnenden Bereich dar, um Gedächtnis- und Reformulierungsprozesse von Vergangenem zu explorieren.
Bei der Analyse richtet sich das Augenmerk auf (Wieder-)erzählungen sowohl von Selbsterlebtem als auch von Geschichten aus zweiter Hand (vgl. Michel 1985). Ein qualitativer, multiperspektivischer Ansatz ermöglicht es u. a., mikroanalytische Untersuchungen der lexiko-syntaktischen und prosodischen Gestaltung der verglichenen Passagen durchzuführen und dabei Tendenzen zu Varianz und Invarianz in den Erinnerungs- und erzählerischen Rekonstruktionsprozessen zu erkennen. Außerdem erweist sich die Anwendung des Chronotopos-Konzeptes (vgl. Bachtin 2008) als besonders geeignet, um unterschiedliche Verfestigungsgrade bei mehrfachen Erinnerungs- und Rekonstruktionsvorgängen derselben Geschichten zu erfassen.
Rita Luppi hat im Jahr 2022 an der Universität Mailand promoviert und ist z. Z. wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bologna. 2020/21 war sie DAAD-Stipendiatin am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim; mit dem Marco Polo-Stipendium der Universität Bologna absolvierte sie 2024/25 einen Forschungsaufenthalt an der TU Berlin und am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) in Potsdam. Ihre Forschungsinteressen liegen v. a. im Bereich der Pragmatik – insbesondere der Gesprächsanalyse –, der Korpuslinguistik sowie auf der Analyse des Verhältnisses von Sprache und Migration.
https://www.unibo.it/sitoweb/rita.luppi2/en